Der leere Stuhl

Dezember 4, 2007

Der Wecker! Sehr sadistisches Gerät. Er reißt mich aus dem einzigen natürlichen Glücks- oder Ruhegefühl das dem Mensch gegeben ist. Die gefühlte Temperatur im Raum sollte um die 10 Grad sein, ich kann mit geschlossenem Fenster einfach nicht schlafen! Es fühlt sich an als ob ich mich selber einsperre. Außerdem sollte man Heizkosten sparen, tut der Geldbörse ganz gut. Ich versuche auf zu stehen und weiß, bis der Schmerz einsetzt, nicht warum ich überhaupt den Wecker gestellt hatte. Als es mir wie ein Stromschlag den Rücken hoch zieht wird es mir wieder bewusst. Ich wollte zum Arzt. Durchatmen und langsam aufrichten. Heute ist es wieder schlimmer als sonst aber wie heißt es so schön, wenn man aufwacht und es tut einem nichts weh ist man schon tot. Ich drehe die Heizung auf und schließe das Fenster. Mein Blick fällt auf die andere Straßenseite, es ist natürlich um diese Zeit noch dunkel. In der Wohnung im ersten Stock hat Bertram gewohnt. Der gute alte Berti und ich waren die dicksten Freunde, seit Kindertagen. Er ist schon tot, letztes Jahr hat es ihn erwischt. Mir wird flau im Magen und ich versuche mich auf andere Sachen zu konzentrieren. Wunderbar! Da kommt ein Gefühlsreger angefahren und parkt wie immer vor der Feuerwehrzufahrt. Dieser bekackte Yuppie und seine Barbiepuppe von Freundin. Das muss ein neuer Wagen sein und wie es aussieht hat er wiedermal getankt bis zum Anschlag. Sie steigen beide aus, sie gackert, er lacht, sie schwanken beide. Sein Blick fährt nach oben zu trifft meinen für einen Augenblick. Er lacht und winkt mir zu bevor er die Tür aufschließt und seine Tussi wankt durch ins Treppenhaus. Er hat nicht gelacht weil er sich freut mich zu sehen sondern er hat über mich gelacht. Über das karge Leben das ich führe und die Tatsache das ich wach bin und er gerade ins Bett geht. Hoffentlich wickelt sich er sich eines Tages mit Vatis Auto um einen Baum.
Da ich nun etwas habe was meinen Kreislauf in Schwung gebracht hat, setze ich den Kaffee auf und gehe duschen. Langsam stelle ich mich unter die Brause, die Schmerzen so groß das ich mich festhalten muss. Das Wasser wird wärmer und schließlich wunderbar heiß. Wenigstens kann ich das noch allein und brauche keinen Pfleger der mir hilft. Bei dem Gedanken muss ich lächeln. Noch nicht, bei Gott noch nicht!! Ich beende mein Morgenritual und trinke den ersten Kaffee des Tages. Dazu Toast mit Butter und etwas Aufschnitt. Wie jeden morgen der leere Platz mir gegenüber. So leer wie mein Herz. Gott Bettina ich vermisse dich so sehr! Ich muss weinen. Drei Jahre ist es bereits her und ich muss immer noch weinen. Wenn ich aus dem Bad kam war immer der Kaffee schon durchgelaufen und der Tisch gedeckt. Du hast immer nach mir geduscht und ich habe meistens mit dem Frühstück auf dich gewartet. Ich werde diesen Blick in deinen Augen nie vergessen können. Immer wenn du deine Tasse genommen hast und den ersten Schluck des Kaffees schlürfend in dich aufnahmst. Deine Augen schauten gerade noch über den Rand der Tasse und es war jeden morgen dasselbe Ritual. Deine Augen waren so schön. Du warst so schön. Warum musstest du gehen? Warum musstest du gehen und mich alleine lassen in dieser schnellen und vollkommen wahnsinnigen Welt. Eine Welt angeführt von Verrückten ohne Verstand und Gewissen, in der jemand wie ich einfach fehl am Platz zu sein scheint. In dieser Welt gibt es keinen Platz für einen Mann mit Integrität und Verantwortung. Wo sind all die Menschen die einmal so gedacht haben wie ich. Einige sind genauso tot wie du, andere haben sich nach deinem Tod nie wieder bei mir gemeldet. Selbst ein Großteil unserer Freunde sind mir über die Jahre fremd geworden. Sie konnten es nicht ertragen, nicht ertragen mich so zu sehen. Alle ihre Versprechungen und Beileidsbekundungen gingen über die Jahre in Rauch auf. Nicht alle natürlich aber die meisten aber wer kann es ihnen übel nehmen. Leben wir nicht alle für uns allein?
Die Sonne geht auf, es wird langsam Zeit. Wenigstens ist es nicht weit zur Straßenbahn und die Praxis nur drei Stationen ohne umsteigen. Um diese Zeit sind die Menschen erträglich. Die meisten sind müde und wollen nur auf der Arbeit ankommen und es hinter sich bringen. Ich habe immer gerne gearbeitet, aber das ist auch vorbei. Wer nimmt mich den schließlich noch als Florist? Ich habe Blumen immer als Segen dieser Welt empfunden obwohl sie einem ständig vor Augen führen das alles so vergänglich ist. Doch ich habe es wirklich geliebt mich mit ihnen zu beschäftigen und wenigstens kamen sie nie aus der Mode. Es wird Gott sei dank immer Menschen geben die Blumen kaufen. Ein Lächeln umspielt meine Lippen, ich nehme meinen Gehstock denn es geht nicht mehr ohne und gehe zur Haltestelle. Ein Pärchen von Jugendlichen. Sie mal höchstens 15 er wohl locker 18. Aber vielleicht ist sie auch jünger, dass viel mir bei Frauen schon immer schwer. Bevor ich merke was los ist reißt mich sein „Was gibts da zu kucken?“ aus den Gedanken. Er sieht mich an. Was für eine seltsame Erscheinung der Kerl doch ist. Die Haare zu einem Irokesen gegelt, eine Trainingshose von Adidas und eine Jacke über und über mit dem Schriftzug D&G überzogen.Was zur Hölle ist D&G? Ich merke wie fremd mir dieser „Kinder“ immer wieder sind und schenke ihm ein entwaffnendes Lächeln. „Nichts weiter, entschuldigung! War nur in Gedanken.“ Er nickt mir zu, scheint zufrieden das er seinen Mann gestanden hat und verabschiedet sich von seiner Freundin. Die Bahn fährt vor und hält direkt vor mir. Sie kommt zu mir gelaufen. „Tut mir leid das er sie angemacht hat, er ist schlecht drauf heute. Warten sie ich helfe ihnen.“ Bevor ich merke was geschieht hilft sie mir ins den Tramwagen und geht zu ihren Freundinnen im vorderen Teil. Sie hatte schöne Augen denke ich mir, obwohl ich bei dem Mitleid in ihren Augen einen Hauch von Ekel empfunden habe. Bin ich für sie nicht nur ein Opfer?
Ich grüble und steige aus. Die Praxis ist noch fast leer und der Doktor hat schnell Zeit für mich. „Na Herr Michels wie ist es?“ Ich schildere ihm meine Schmerzen und er gibt mir einen Spritze. Wohltuend ist sie allemal. Er empfiehlt mir schwimmen zu gehen wie damals in der Reha und verweißt auf die Ermäßigungen die ich mit meinen Ausweiß im Thermalbad bekommen kann. Ich mag ihn, er hat mir sehr geholfen nach dem es passiert war und war bei Bettinas Beerdigung. Guter Mann. „Für die Schmerzen. Kann mir vorstellen das sich bei diesem Wetter ihr anders Leiden auch melden wird.“ Er schiebt mir das Rezept über den Tisch und weißt auf meinen Stumpf. Bis zum Ellenbogen war das einmal mein linker Arm. Der Fahrer des Lastwagens war übermüdet und kam von der Spur ab. Er traf uns frontal auf der Landstraße. Wir waren im Kino gewesen. Bettina starb auf dem Weg ins Krankenhaus. „Ja danke sehr, sicher ist sicher.“ Ich nehme das Rezept und stehe auf. Der Doktor gibt mir noch ein paar Worte wie „Kopf hoch“ und „das wird schon“ mit auf den Weg. Er meint es gut.
Auf dem Weg zum Friedhof kaufe ich eine Dahlie. In der Bahn hören einige Kids ihre Musik über die Lautsprecher ihrer Handies. Furchtbares Zeug! Die Ruhe auf dem Friedhof tut gut. Als ich vor ihrem Grab stehe merke ich wie fremd mir diese Welt geworden ist. Sie ist so hektisch und überreizt, ich verstehe sie einfach nicht. Sie war mein Kompass! Es ist hart die Richtung in diesem Leben zu finden.
Ich fühle mich so schrecklich alt. Ich bin 27 Jahre alt.

Die Jagd

Oktober 20, 2007

Ich begann zu pfeifen. Das letzte Mal als ich gepfiffen hatte war lange her. So lange das ich mich nicht mehr erinnern konnte. Dabei wurde mir schlagartig bewusst das ich bei weitem zu viel über das nachdachte was ich tat und sagte. Mein Erlebnis im Park hatte mich zu der Erkenntnis geführt, dass in all den Momenten die wir erleben und die wir zum großen Teil wohl auch leider bedauern, die einzige Konstante wir selbst sind. Wie all die Menschen um mich herum damit klar kommen war mir immer ein Rätsel. Ich hatte nie begriffen was mich wirklich ausmacht. Sicher gab es Dinge die ich an mir mochte und schätzte und viele Dinge davon waren sicher charakterlich herausragend. Doch die meisten Dinge an mir waren nun mal eher verwirrend, teilweise sogar ängstigend. Ich gestatte mir über dieses Thema ein wenig zu sinnieren, als ich durch die Straßen der Stadt lief ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen. Mir kam der Gedanke das diese Tätigkeit erstaunlich nahe an mein Leben angelegt war. Das bezog sich weniger darauf wie es vor sich ging, als eher die Tatsache das ich nie begriffen hatte wie ich es gestaltete.
Zu erst einmal musste ich eine positive Grundbilanz ziehen. Ich war jung, gesund, hatte eine gute Bleibe nebst einem mir auf eine gewisse neurotische Weise ähnelnden Mitbewohner, ich hatte Geld, eine Familie. Ich hatte also das was man allgemein als eine durchaus ansprechende Lebenssituation betrachten konnte. Doch was war meine Aufgabe in dieser Situation? Was hatte ich hier in diesem, meinem Leben, verloren? Ich will es genauer erläutern. Haben sie nie das Gefühl verspürt das man all die Dinge die sie erleben wie eine Scharade für sie aufführt? Wie ein Opfer bei diesen „Versteckte Kamera“ Sendungen? Sie sind zwar der Mittelpunkt der Handlung, dabei jedoch nichts als ein Opfer das sich fügen muss und die Dinge akzeptieren die man ihnen vormacht. Sie haben keinen Einfluss! Nun gut reden wir mehr von mir, schließlich kann ich nicht beurteilen wie sie das sehen sondern nur Vergleichsmomente heranziehen. Nehmen wir mal an etwas Gutes geschieht mir und ich habe nicht damit gerechnet. Die Freude ist groß, man freut sich mit mir und sicher tue ich es auch aber trotzdem, drängt sich mir der Gedanke sofort auf, dass eine Gegenleistung dafür zu erwarten ist. Als ob man spürt wie das Universum tickt und wenn einem die Stunde schlägt, egal ob gut oder schlecht, fragt man sich warum das so ist. Ich kann nichts unbedacht lassen wie ich bereits zu Anfang erklärt habe. Ich denke ständig darüber nach warum die Dinge so sind, wie sie sich entwickeln und kann deswegen meistens nie ruhig stehen. Auch wenn ich mittlerweile begriffen habe das Hoffnung immer da sein wird und eigentlich dieses ganze Gegrübel nicht wirklich dazu beiträgt, meine Stimmung zu verbessern, so kann ich es doch nicht lassen. Ich bin gefangen in einer Gedankenwelt die niemals ruhig steht und dabei trotzdem nie zu einem Ergebnis kommt, welches länger als ein paar weitere Gedanken hält. Nichts scheint von Dauer. Absolut gar nichts. Freude, Wut, Liebe und alles andere verblassen zu einem grauen Schleier aus Unwissen. Dieses Unwissen schürt mehr und mehr Fragen. Fragen nach dem Sinn und dem Unsinn eines Lebens, in dem ein Großteil der Dinge keine Bedeutung hat, weil man sich ausserstande sieht ihnen eine zu geben. Nicht das man es nicht versucht oder will, es scheint einfach nicht zu gehen.
Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf wird die Konstante des Selbst viel klarer. Wenn einem erst einmal klar geworden ist, das alles über kurz oder lange bedeutungslos wird und man sich seine emotional-gedankliche Verfassung ständig neu aneignen muss, damit sie wenigstens den Tag überlebt, begreift man das Chaos das man selber darstellt. Beneidenswert sind diejenigen, die ein festes Weltbild haben und wissen warum ihnen die Stunde schlägt. Ich scheine das nicht zu können und der einzige Weg diesem Leben aus trivialen Eindrücken und der ewigen Frage nach dem Morgen zu begegnen ist die Suche nach dem perfekten Moment.
Dem Moment der vollkommen einem selbst gehört und den nichts hinterfragbar macht. Ich jage diesem Moment mein ganzes Leben hinterher und es mag passiert sein das ich ihn erlebt habe. Ein Gefühl von absoluter Freiheit, ein Gefühl von unbeschreiblicher Ruhe im Geiste. Das Gefühl genau hier und jetzt einen Sinn zu haben, nur um das zu erleben was man gerade erlebt. In einer Welt aus Tausenden von Eindrücken und Verführungen zu wissen wer man ist, ist das größte Geschenk im Leben. Wenn du weist wer du bist, weist du auch wo du hingehörst.
Doch die Jagd zehrt. Sie verkommt zum Exzess und einem Kampf den man nie zu gewinnen scheint. Ist der Moment nämlich vorbei verflucht man ihn, da er einen verlassen hat und wieder alles nur von derselben Gleichgültigkeit zerfressen scheint, welche ständig wie ein Raubtier darauf wartet einen zu überfallen. Man jagt weiter, schneller mit mehr Intensität und akzeptiert jede Freud und Qual auf die gleiche Weise, nur um etwas näher an die Lösung zu kommen.
Während ich zurück in die Wohnung schlendere gehe ich all dies noch einmal durch. Ich will meinem Geist die Ruhe geben die er verlangt, denn auch wenn alles gleichgültig ist, so spüre ich doch die Einsamkeit die mir mein Denken schafft. Ich glaube es gibt nicht viele die so denken wie ich und mehr und mehr spüre ich, dass man meine Welt nicht zu teilen vermag. Eine begleitende Seele wäre schön. Jemand der dasselbe sucht wie ich und mit dem man im perfekten Moment verschmelzen kann. Etwas teilen kann das so wundervoll ist das nichts hinterfragt werden muss. Die perfekte Harmonie! Ich stehe bereits in der Küche als mir klar wird das ich nun mir wieder eine neue Taktik angeeignet habe. Ich muss nicht nur mich selber finden. Ich muss mich selbst in einem anderen finden. Ich kann diese Suche nicht allein gewinnen, denn über kurz oder lang wird meine Kraft versagen und nichts wird bleiben. Nicht mal die Gleichgültigkeit.
Wo bist du? Ich finde dich, denn ich weiß wir brauchen uns. Mehr als alles auf der Welt. Ich reinige das Bad, kehre die Splitter meines Spiegels zusammen und muss lachen. Wie oft werde ich selber mein Ebenbild noch brechen, bis mir eines begegnet das ich als mein eigenes ansehe?

Der Samariter

September 4, 2007

Ich schlug die Tür hinter mir zu. Mit einem lauten Krachen fiel sie ins Schloss und es war mir egal ob ich, besser gesagt wir, wieder eine Beschwerde bekommen würden. Mit der Wut im Bauch zur Arbeit zu gehen war weniger als nur empfehlenswert. Was ich mache? Ich bin als Telefonseelsorger tätig! Ich helfe anderen Menschen mit Problemen weiter, die sie selber nicht lösen können. Als ob ich sie selber lösen könnte. Ich meine natürlich ihre Probleme. Von meinen rede ich nicht, weder bei der Arbeit noch mit meinen sogenannten Seelenverwandten. Zurück zum Job. Ich steige mit all den anderen Lohnsklaven in die U-Bahn und drehe die Lautstärke meines MP3-Players bis zum Anschlag. Blues Rock, genauer gesagt das erste Mother Tongue Album, dröhnt durch mein Hirn. Ich achte nicht auf die Menschen um mich herum. Ich werde für den Rest des Tages noch genug gescheiterte Existenzen am Hörer haben mit denen ich mich auseinandersetzen muss.
Ich treffe im Call Center ein und setze mich an meinen Platz. Die übliche Maske der Software erscheint und ich loge mich ein. Das Headset auf den Ohren und schon beginnt das Leiden. Ich werde ihnen ersparen was genau ich zu hören bekomme und mich bereits im Vorfeld vor jeder Anklage freisprechen. Fragen wie: „Wenn du so drauf bist, warum machst du diesen Job dann?“ Ich tue es weil es gutes Geld bringt und weil ich im Herzen weiß das es mir hilft, wenn ich anderen eine Hilfe bin. Ich habe schließlich ein gefasstes Weltbild! Ich finanziere mit diesem Job mein Leben und werde wenn ich meinen Doktor habe sicher anderes tun können. Vor allem werde ich endlich die Anerkennung bekommen, welche mir während meines Studiums nicht zu Teil geworden ist. All diese aufgeblasenen Idioten die meinen es sei wichtig ein Leben zu führen, das Standards entspricht die sie selber nur aufgreifen müssen um etwas besseres zu sein. Ich meine sehen sie sich doch nur mal um! Früher war es so, das es gut war sich etwas unter zu ordnen. Die Generation unserer Großeltern hat sich einem Regime unterordnen müssen das jede Form von Individualität verbannt hat. Ihre Kinder gewannen, oder kämpften zumindest für, freies Denken und eine Lebensweise welche frei von allen Konventionen sein sollte. Was haben wir jetzt? Die schlimmste von allen Möglichkeiten. Individualität wird zum absoluten Credo. Frei denken und sein Leben nicht unter ein gewisses Licht zu stellen ist ein Muss geworden. Doch was keiner rafft, ist die Tatsache das man wenn man etwas wirklich außergewöhnliches tut, man sowieso in irgendeiner Schublade landet. Sobald sie sich in irgendeiner Weise anziehen und bestimmte Musik hören oder ein gewisses Buch lesen, landen sie ein einer Subkultur oder Schublade. Und wenn sie darauf hinweisen das es nicht so ist, landen sie in der schlimmsten von allen. Dann sind sind sie ein armer, wenn auch bemühter, Nonkonformist. Kurz gesagt sie können gar nicht anders als zu dem zu werden was alle erwarten, denn in der heutigen Zeit ist alles „In Ordnung“. Individualität und der freie Geist werden aufgegriffen, klassifiziert und dann in eine Form gepresst. Wenn sie gut dran sind können sie es weiterverkaufen und darüber lachen. Ich kann es nicht! Wofür soll ich verdammt noch kämpfen, wenn ich nicht weiß wie ich diesen Kreis brechen soll?
Meine Schicht endet und ich habe wieder einmal das ganze Elend dieser Welt auf meine Schultern geladen. Es ist jetzt vier Uhr am Nachmittag und ich brauche einen Drink. Ich verlasse das Unternehmen und wiegele meine Kollegen ab. „Hey Rick, kommst du heute Abend in den Pub? Hey Rick, wollten wir uns nicht da und da treffen?“ Ich mime den netten Kumpel und sage immer freundlich nein und ich hätte es vergessen.
So finde ich mich wieder. Im Park, um vier Uhr Mittags und ne Flasche Wein in der Hand. Zum kotzen!!!! Ist schon nett zu betrachten oder? Ein Mensch der anderen sagt was sie tun sollen und der alles verabscheut was irgendwie einem bestimmten Schema entspricht und hier sitze ich. Hasse mein Existenz und auch die Menschen um mich herum. Nicht alle natürlich. Ich habe Freunde. Gute Freunde und Familie. Sie können schließlich nichts für meine Art des Lebens und für meinen Kampf. Was mein Kampf ist? Ich spiele den abgeklärten Samariter und weiß dabei einen Scheiß. Was erwarte ich von meinem Leben und wo gehe ich hin? Die Menschen die ich liebe sind mir wichtig. Wichtiger als alles andere. Wichtiger als ich mir selbst bin.
Ich trinke die Hälfte des Weines aus und begebe mich auf den Weg nach Hause. Dort werde ich lesen und glauben das morgen sich etwas ändert. Das es etwas gibt für das es sich lohnt zu kämpfen und das man auch gewinnen kann. Mit ein bisschen Glück hat er die Splitter aus dem Bad entfernt. Dann wird jeder Tag enden wie jeder andere und ich muss mir nicht über das Morgen Gedanken machen.

Es war als ob man im Knast sitzt und sich dann erschreckt das es nicht so ist. Das Licht drang, gebrochen durch den Smog der Großstadt, durch die alten von einem gelben Nikotin dunst bedeckten Jalousien. Ich wachte auf und für den ersten Moment des Tages beschlich mich das Gefühl der Veränderung. Ich nahm zuerst an dass ich wie gesagt im Knast wäre. Weniger weil ich ein schlechter Mensch bin, sondern weil sich das Licht wie durch Gitterstäbe gebrochen auf meiner Wand abzeichnete. Doch die gehegte Hoffnung auf eine Veränderung meines Lebens, welcher Art auch immer, verflog schnell als ich erkannte das es immer noch mein Zimmer war das ich bewohnte. Der Geschmack in meinem Mund war irgendwie leicht metallisch und obwohl ich stets Wasser neben dem Bett stehen habe, fand ich zu meiner Entäuschung nur leere Flaschen. Keine davon hatte zum Zeitpunkt ihrer Befüllung Wasser enthalten, also nahm ich einen Schluck von was auch immer ich erreichen konnte. Es war Rosé! Er musste seit Tagen offen dort herum gestanden haben und war somit nicht nur ungeniessbar, sondern so etwas wie ein perverser Weckruf an meine Geschmacksnerven. Der enstehende Ekel wand sich mein Rückrat hinauf und nun war ich nicht nur wach, sondern auch mit der Tatsache konfrontiert das meine derzeitige Lebensart nicht besser hätte hervortreten können. Ein Spuckrest alten Weines, gemischt mit der ein oder anderen Obstfliege die sich mit großer Wahrscheinlichkeit dort niedergelassen hatte.
Ekelhaft! Nicht der Wein, nicht die darin enthaltene Proteinbeigabe sondern ich selbst. Ich richtete mich im Bett auf und verfluchte mich für meine Idiotie, den großen Spiegel den ich mir auf einem Flohmarkt gekauft hatte, direkt gegenüber meines Bettes aufgehangen zu haben. Es schien damals eine gute Idee gewesen zu sein, vorallem weil ich zu diesem Zeitpunkt so etwas wie ein Sexualleben gehabt hatte und ich meinem eigenen Narzissmus damit auf die Spitze treiben konnte. Damals meint vor einem halben Jahr. Bevor ich kapierte was los war hörte ich das Klirren und der Rosé war meiner Hand entglitten. Entfolgen trifft es wohl besser, genau in die Mitte des Spiegels. Ich musste lachen. Die Tür ging auf und mein Mithäftling stand in der Tür. „Hast du sie noch alle Mann!?“ Ach ja genau,…Rick. Eigentlich war sein Name Ricardo aber er hasste ihn weil er ihm seine streng katholischen Eltern so genannt hatten. Ich mochte ihn da er einen tief sitzende Abneigung gegen alles hatte, bei dem man sich unterordnete. Er lies keinen Konflikt aus und brach mit Eltern, Schwester, Freundin, Freunden, der Kirche, dem Bäcker um die Ecke, den Armen dieser Welt, den reichen Stars der Medien, den Vorbildern anderer und auch manchmal mit mir. Vor allem dann wenn ich ihm bei einer Tüte damit konfrontierte, dass sein Nonkonformismus schließlich auch konformistisch sei. Nur mir verzieh er meistens, nur in der letzten Zeit nicht. Ich liese mich zu sehr hängen.
Ein Ruck und der unverwechselbare Schmerz einer guten Backpfeife rissen mich aus meinem Lachen und Grübeln. Er hatte mich tatsächlich geschlagen. „Für die Glassplitter in meinem Fuss. Räum die Scheiße im Bad zur Seite Mann!“ Ich dachte kurz nach, er ging aus dem Zimmer und knallte die Tür zu. Es war an der Zeit mich zu stellen. Meinen Hinterlassenschaften, meinem Tag und wohl damit verbunden meinem Leben. Ich hatte schon seit einigen Wochen keine Arbeit mehr und dankte im Geiste meiner Mutter, die mich dazu erzogen hatte zu sparen. Ich lebte also von meinen Reserven, die ganz beträchtlich waren und konnte alles bezahlen. Meine Miete, mein Essen wenn ich denn welches zu mir nahm und vor allem die Vergnügungen die mir eine Ablenkung verschafften. Ich ging also ins Bad, machte kurz alles sauber, kehrte die Reste der Whiskyflasche zusammen die ich fallen gelassen haben musste als ich heute Nacht in der Badewanne gedöst hatte und nahm eine Dusche. Eine heiße wohlgemerkt, für eine kalte war ich einfach zu sehr Weichei. Ich traf Rick in der Küche und sein Blick war derselbe wie die letzten Wochen. Eine Mischung aus Mitleid, Zorn und vor allem blankem Unverständnis. „Warum tust du das,… häh? Das wird ihn nicht wieder ins Leben holen und er würde dir dafür den Arsch aufreißen. Komm auf Spur und hör damit auf, sieh dich doch mal an. Du bist dünn wie ein Windhund geworden. Dein Zimmer zieht bald Ungeziefer an und stinkt schlimmer als die Scheiße aus deinem Arsch. Und was sollte das mit dem Spiegel? Hast du endlich realisiert wie ich dich jeden Tag sehe, seit ungefähr fünf Wochen? Ich geh jetzt arbeiten, sieh zu das du mal nachdenkst. Er würde dir das selbe raten.“ Er stand auf und ging. Ich machte mich über den Rest der Rühreier her und gab nach einem Bissen auf. Er! Mit er meinte er meinen Bruder. Er war tot. Ein Besoffener hatte ihn mit dem Wagen gestreift. Er erlag drei Tage später seinen Verletzungen. Er war mein Idol aber heißt es nicht „kill your Idols“? Blanker Zynismus, ich weiß, aber ich hab nichts anderes.
Ich begab mich auf die Suche nach mir selbst und beschloss in den Park zu fahren. Vielleicht würde ich mal wieder versuchen Miriam anzurufen aber es würde keinen Zweck haben. Sie hatte sich von mir getrennt und das wahrscheinlich weil sie merkte das ich sie runter zog. So war es immer gewesen. Ich hatte sie aus dem Dreck gezogen als es ihr schlecht ging aber immer wenn ein Mensch um sie herum sie brauchte, zog sie sich zurück. Ich verwarf die Idee und nahm die U-Bahn zum Stadtpark. Als ich im halbleeren Abteil saß wurde mir klar, das mich die Leute ansahen. Oder war das nur Einbildung? Allerdings warum nicht, meine Augenringe mussten die Tiefe des Marianengrabens haben. Der Blick hohl und ins Nichts gerichtet und jede Handlung und Bewegung von Selbstaufgabe zeugend. Ein lebender Toter! Aber was solls! Ich hörte der Frau hinter mir zu und schlagartig drehte sich meine Auffasung um. All die Menschen um mich herum schienen ebenfalls nicht zu leben, sondern sich im besten Falle nur ans Leben zu klammern. Sie scherzten, redeten, lachten, jammerten und vorallem litten sie. Hier eine kaputte Bandscheibe, da ein verlorener Job, hier ein Arschloch aus der Disco vom Abend davor, dort zuwenig Rente, hier zu viel Schulden, dort ein Blick der nichts als Leere enthielt. Sie waren die lebenden Toten! Ich gestand mir wenigstens ein das ich es war, aber sie waren schlimmer als ich. Sie waren Heuchler!
Ich verließ die U-Bahn und nahm mir einen Kaffee auf nüchternen Magen. Dazu eine Zigarette. Wäre Sartre hier, würde er mich sicher zu meinem existenzialistischen Frühstück beglückwünschen dachte ich mir und ging durch den Park. Ich saß nicht mal zehn Minuten auf einer Bank als ich mich übergab. Direkt vor mich auf den Boden. Ich musste lachen. So laut das die ältere Dame mit den sieben Kilo Make-Up im Gesicht ihren kleinen Hund auf den Arm nahm und auf eine panische, aber durchaus distinguierte, Weise das Weite suchte. Ich sollte auf Spur kommen hatte Rick gesagt. Ich hatte die Spur schon lange verloren. Nichts schien mehr Sinn zu machen und er hatte unrecht. Es war nicht mein Bruder der es ausgelöst hatte. Es war diese Existenz selbst. Ich war es alles so leid. Ich war es leid zu arbeiten und Spass daran zu haben. Ich war es leid mein Studium zu betreiben und dabei auch noch gut zu sein. Ich hatte es leid zu ficken wenn ich eine Freundin hatte und ich war es leid es nicht zu können wenn ich keine hatte. Ich war meine Freunde leid und ihre Gesten und Macken. Ich war es leid das alles um mich herum so unglaublich trivial war und es nichts zu geben schien, was mich davon überzeugen konnte das es eine Macht gäbe, welche sich um das Licht an dem Ende des Tunnels kümmerte. Der letzte Satz war aus dem Film Fear and Loathing Las Vegas. Nichtmal meine Worte waren die eigenen!
Ich sah eine Gruppe Kinder vorbeigehen und schlagartig war mir klar was zu tun war. Ich würde einfach akzeptieren! Ich begriff das meine Rettung darin lag zu akzeptieren, dass alles keinen Sinn ergab. Klarheit!! Segensreiche Klarheit!!!! Wenn es nichts gab, konnte man auch nichts verlieren! Ich weinte! Zum ersten mal seit dem Tod meines Bruders hatte ich die Kraft dazu. Ich dachte an Jack Kerouac der gesagt hatte: „Accept loss forever.“ Ich hatte nichts je besessen. Ich musste mir erst alles neu aneignen. Und sicherlich würde es nicht das letzte mal sein das ich es tun müsste, aber egal. Ich stand auf und ging. Wohin wusste ich nicht nur das es mir besser ging. Auf eine zynische Art besser, aber immerhin besser.
Kein Sinn, also auch kein Verlust. Ein Lächeln, eine Verbeugung vor dem Leben selbst und die Hoffnung. Denn auch wenn es kitschig ist, sie stirbt immer zuletzt.