Der leere Stuhl

Dezember 4, 2007

Der Wecker! Sehr sadistisches Gerät. Er reißt mich aus dem einzigen natürlichen Glücks- oder Ruhegefühl das dem Mensch gegeben ist. Die gefühlte Temperatur im Raum sollte um die 10 Grad sein, ich kann mit geschlossenem Fenster einfach nicht schlafen! Es fühlt sich an als ob ich mich selber einsperre. Außerdem sollte man Heizkosten sparen, tut der Geldbörse ganz gut. Ich versuche auf zu stehen und weiß, bis der Schmerz einsetzt, nicht warum ich überhaupt den Wecker gestellt hatte. Als es mir wie ein Stromschlag den Rücken hoch zieht wird es mir wieder bewusst. Ich wollte zum Arzt. Durchatmen und langsam aufrichten. Heute ist es wieder schlimmer als sonst aber wie heißt es so schön, wenn man aufwacht und es tut einem nichts weh ist man schon tot. Ich drehe die Heizung auf und schließe das Fenster. Mein Blick fällt auf die andere Straßenseite, es ist natürlich um diese Zeit noch dunkel. In der Wohnung im ersten Stock hat Bertram gewohnt. Der gute alte Berti und ich waren die dicksten Freunde, seit Kindertagen. Er ist schon tot, letztes Jahr hat es ihn erwischt. Mir wird flau im Magen und ich versuche mich auf andere Sachen zu konzentrieren. Wunderbar! Da kommt ein Gefühlsreger angefahren und parkt wie immer vor der Feuerwehrzufahrt. Dieser bekackte Yuppie und seine Barbiepuppe von Freundin. Das muss ein neuer Wagen sein und wie es aussieht hat er wiedermal getankt bis zum Anschlag. Sie steigen beide aus, sie gackert, er lacht, sie schwanken beide. Sein Blick fährt nach oben zu trifft meinen für einen Augenblick. Er lacht und winkt mir zu bevor er die Tür aufschließt und seine Tussi wankt durch ins Treppenhaus. Er hat nicht gelacht weil er sich freut mich zu sehen sondern er hat über mich gelacht. Über das karge Leben das ich führe und die Tatsache das ich wach bin und er gerade ins Bett geht. Hoffentlich wickelt sich er sich eines Tages mit Vatis Auto um einen Baum.
Da ich nun etwas habe was meinen Kreislauf in Schwung gebracht hat, setze ich den Kaffee auf und gehe duschen. Langsam stelle ich mich unter die Brause, die Schmerzen so groß das ich mich festhalten muss. Das Wasser wird wärmer und schließlich wunderbar heiß. Wenigstens kann ich das noch allein und brauche keinen Pfleger der mir hilft. Bei dem Gedanken muss ich lächeln. Noch nicht, bei Gott noch nicht!! Ich beende mein Morgenritual und trinke den ersten Kaffee des Tages. Dazu Toast mit Butter und etwas Aufschnitt. Wie jeden morgen der leere Platz mir gegenüber. So leer wie mein Herz. Gott Bettina ich vermisse dich so sehr! Ich muss weinen. Drei Jahre ist es bereits her und ich muss immer noch weinen. Wenn ich aus dem Bad kam war immer der Kaffee schon durchgelaufen und der Tisch gedeckt. Du hast immer nach mir geduscht und ich habe meistens mit dem Frühstück auf dich gewartet. Ich werde diesen Blick in deinen Augen nie vergessen können. Immer wenn du deine Tasse genommen hast und den ersten Schluck des Kaffees schlürfend in dich aufnahmst. Deine Augen schauten gerade noch über den Rand der Tasse und es war jeden morgen dasselbe Ritual. Deine Augen waren so schön. Du warst so schön. Warum musstest du gehen? Warum musstest du gehen und mich alleine lassen in dieser schnellen und vollkommen wahnsinnigen Welt. Eine Welt angeführt von Verrückten ohne Verstand und Gewissen, in der jemand wie ich einfach fehl am Platz zu sein scheint. In dieser Welt gibt es keinen Platz für einen Mann mit Integrität und Verantwortung. Wo sind all die Menschen die einmal so gedacht haben wie ich. Einige sind genauso tot wie du, andere haben sich nach deinem Tod nie wieder bei mir gemeldet. Selbst ein Großteil unserer Freunde sind mir über die Jahre fremd geworden. Sie konnten es nicht ertragen, nicht ertragen mich so zu sehen. Alle ihre Versprechungen und Beileidsbekundungen gingen über die Jahre in Rauch auf. Nicht alle natürlich aber die meisten aber wer kann es ihnen übel nehmen. Leben wir nicht alle für uns allein?
Die Sonne geht auf, es wird langsam Zeit. Wenigstens ist es nicht weit zur Straßenbahn und die Praxis nur drei Stationen ohne umsteigen. Um diese Zeit sind die Menschen erträglich. Die meisten sind müde und wollen nur auf der Arbeit ankommen und es hinter sich bringen. Ich habe immer gerne gearbeitet, aber das ist auch vorbei. Wer nimmt mich den schließlich noch als Florist? Ich habe Blumen immer als Segen dieser Welt empfunden obwohl sie einem ständig vor Augen führen das alles so vergänglich ist. Doch ich habe es wirklich geliebt mich mit ihnen zu beschäftigen und wenigstens kamen sie nie aus der Mode. Es wird Gott sei dank immer Menschen geben die Blumen kaufen. Ein Lächeln umspielt meine Lippen, ich nehme meinen Gehstock denn es geht nicht mehr ohne und gehe zur Haltestelle. Ein Pärchen von Jugendlichen. Sie mal höchstens 15 er wohl locker 18. Aber vielleicht ist sie auch jünger, dass viel mir bei Frauen schon immer schwer. Bevor ich merke was los ist reißt mich sein „Was gibts da zu kucken?“ aus den Gedanken. Er sieht mich an. Was für eine seltsame Erscheinung der Kerl doch ist. Die Haare zu einem Irokesen gegelt, eine Trainingshose von Adidas und eine Jacke über und über mit dem Schriftzug D&G überzogen.Was zur Hölle ist D&G? Ich merke wie fremd mir dieser „Kinder“ immer wieder sind und schenke ihm ein entwaffnendes Lächeln. „Nichts weiter, entschuldigung! War nur in Gedanken.“ Er nickt mir zu, scheint zufrieden das er seinen Mann gestanden hat und verabschiedet sich von seiner Freundin. Die Bahn fährt vor und hält direkt vor mir. Sie kommt zu mir gelaufen. „Tut mir leid das er sie angemacht hat, er ist schlecht drauf heute. Warten sie ich helfe ihnen.“ Bevor ich merke was geschieht hilft sie mir ins den Tramwagen und geht zu ihren Freundinnen im vorderen Teil. Sie hatte schöne Augen denke ich mir, obwohl ich bei dem Mitleid in ihren Augen einen Hauch von Ekel empfunden habe. Bin ich für sie nicht nur ein Opfer?
Ich grüble und steige aus. Die Praxis ist noch fast leer und der Doktor hat schnell Zeit für mich. „Na Herr Michels wie ist es?“ Ich schildere ihm meine Schmerzen und er gibt mir einen Spritze. Wohltuend ist sie allemal. Er empfiehlt mir schwimmen zu gehen wie damals in der Reha und verweißt auf die Ermäßigungen die ich mit meinen Ausweiß im Thermalbad bekommen kann. Ich mag ihn, er hat mir sehr geholfen nach dem es passiert war und war bei Bettinas Beerdigung. Guter Mann. „Für die Schmerzen. Kann mir vorstellen das sich bei diesem Wetter ihr anders Leiden auch melden wird.“ Er schiebt mir das Rezept über den Tisch und weißt auf meinen Stumpf. Bis zum Ellenbogen war das einmal mein linker Arm. Der Fahrer des Lastwagens war übermüdet und kam von der Spur ab. Er traf uns frontal auf der Landstraße. Wir waren im Kino gewesen. Bettina starb auf dem Weg ins Krankenhaus. „Ja danke sehr, sicher ist sicher.“ Ich nehme das Rezept und stehe auf. Der Doktor gibt mir noch ein paar Worte wie „Kopf hoch“ und „das wird schon“ mit auf den Weg. Er meint es gut.
Auf dem Weg zum Friedhof kaufe ich eine Dahlie. In der Bahn hören einige Kids ihre Musik über die Lautsprecher ihrer Handies. Furchtbares Zeug! Die Ruhe auf dem Friedhof tut gut. Als ich vor ihrem Grab stehe merke ich wie fremd mir diese Welt geworden ist. Sie ist so hektisch und überreizt, ich verstehe sie einfach nicht. Sie war mein Kompass! Es ist hart die Richtung in diesem Leben zu finden.
Ich fühle mich so schrecklich alt. Ich bin 27 Jahre alt.